Der verschwundene Palast (Teil I)

Vielleicht erinnert sich der geneigte Leser, daß ich vor knapp einem Jahr einen Artikel schrieb über den zumindest im 19. Jahrhundert nicht eben bequemen Thron der Pariser Erzbischöfe. Zwischen 1848 und 1871 starben drei der vier während dieses Zeitraumes aktiven Oberhirten eines gewaltsamen Todes.

Und auch Monseigneur Hyacinthe-Louis de Quelen, Erzbischof von 1821 bis 1839, hatte es nicht immer leicht. Denn in seine Amtszeit fällt das Verschwinden des erzbischöflichen Palais zu Paris.

Bezüglich dieses Verschwindens herrschte bei mir jahrelang Verwirrung, denn ich las (allerdings immer nur in deutschen Quellen), daß der Bau mal im Jahre 1830 und mal im Jahre 1831 beschädigt wurde. Dann las ich, daß er sowohl 1830 als auch 1831 verwüstet wurde. Und dann dämmerte es langsam: Die Zerstörung war ein Werk in zwei (eigentlich sogar drei) Stufen.

Hyacinthe-Louis de Quelen, Erzbischof von Paris von 1821 bis 1839

Aber zurück zum Anfang: Hyacinthe-Louis de Quelen wurde 1778 in Paris geboren. Er verlor, so heißt es, elf Familienmitglieder an die Guillotine, was nicht nur zeigt, daß die Quelen von altem Adel waren, sondern auch die Vorsicht des späteren Erzbischofs gegenüber revolutionären Regungen und seine Anhänglichkeit an das Haus der Bourbonen erklärt.

Die bisher konsultierten Quellen zeichnen Quelen als einen Erzbischof, der bei allem Standesbewußtsein sich als wirklicher Hirte seiner Gläubigen und seines Klerus erwies. Mit Karl X. auf mehr als gutem Fuße stehend, war er während der Julirevolution des Jahres 1830 und dem damit einhergehenden Machtwechsel der Laune des Pariser Pöbels ausgesetzt. Zwar war Quelen als Erzbischof beliebt, aber erstens konnte man ihm im entscheidenden Moment sein Verhältnis zum König zur Last legen (obwohl der Erzbischof sich gegen die Juliordonnanzen ausgesprochen hatte) und zweitens hatte jahrelanges Dauerfeuer aus spitzen Federn diverser kirchenfeindlicher Karikaturisten und Journalisten seine Wirkung nicht verfehlt: Besonders der irgendwie immer randaleaffine und plünderungswütige Pariser Pöbel war in die gewünschte Stimmung versetzt worden und konnte durch die üblichen Slogans aktiviert werden.

Und so kam es zum „Karneval von 1830“. Am 28. Juli erschien eine Meute vor dem erzbischöflichen Palais und forderte, daß man dort eine Trikolore hisse. Quelen selbst war nicht anwesend. Nach einigen Minuten der Diskussion verzog sich die Menge und kündigte an, am nächsten Tag wiederzukommen. Um 9:00 Uhr in der Früh erschienen am 29. Juli ca. 80 Männer und forderten Einlaß in den Palast, um nach dort „verstecken Gewehren und Jesuiten“ zu suchen (eine Anschuldigung, die sich selbstverständlich als vollkommen haltlos erwies). Man konnte den Concierge zwingen, das erste Tor zu öffnen, und sofort strömte eine bereits auf ca 1.000 Männer und Frauen angewachsene, teilweise mit Pistolen, Säbeln, Äxten und diversen anderen Zerstörungswerkzeugen bewaffnete Menge in den Hof. Einige Unruhestifter gelangten vom Garten durch Fenster in das Gebäude, warfen sich Chormäntel über, setzten sich Birette auf und feuerten mit ihren Pistolen aus den Fenstern, um den Eindruck zu erwecken, die Domherren wollten sich mit Waffengewalt zur Wehr setzen. Siebzig- und achtzigjährige Kanoniker haben bekanntermaßen die Angewohnheit, sich zuerst in volle Chortracht zu werfen, bevor sie aus ihren Kurien in den erzbischöflichen Palast kommen, um dort aufs Volk zu feuern.

Beim Pöbel, der sich den Luxus dieser Überlegungen nicht gönnte, sondern wohl eher daran dachte, was im Inneren des Gebäudes zu holen war, verfehlten die Schüsse ihre Wirkung nicht. Als die Groteske später doch zum Thema wurde, tauchte die halbärschige Entschuldigung auf, es seien nicht die Domherren gewesen, die gefeuert hatten, sondern die Seminaristen und die Diener. Tatsächlich befanden sich zu diesem Zeitpunkt nur zwei Hausmeister im Gebäude.

Der Mob stürmte ins Erdgeschoß und nahm sich zuerst die dort liegenden Büroräume vor. Papiere, Bücher, Urkunden, Tische, Schränke, Truhen werden zerfleddert, zertrümmert, geplündert und aus dem Fenster geworfen. Die Gelder für die pensionierten und kranken Priester werden gestohlen, Reliquiare werden geschändet und zerstört. Dann schiebt die Menge sich durch den zweiten Hof in den eigentlichen Palast. Ein Teil begibt sich in den Keller, wo man sich am Wein berauscht. Der Rest stürmt in das erste Stockwerk, wo sich die Wohnräume de Erzbischofs und die repräsentativen Zimmer befinden.

Das erzbischöfliche Palais war von außen kein atemberaubend prunkvoller Bau. Aber es war zur Zeit Napoleons im Inneren aufwendig renoviert worden, da Bonaparte es als Residenz zuerst für Kardinal Fesch und später für Papst Pius VII (den er nach Paris holen wollte) auserkoren hatte. Entsprechend prachtvoll waren die Zimmer ausgestattet. Nun fiel alles einem Pöbel zum Opfer, der – da sind sich irgendwie alle Berichte einig – in einer Mischung aus tollwütig-fiebriger Partystimmung und blinder Raserei durch die Räume tobte. Das kostbare Mobiliar wurde zerbrochen, die Spiegel zerschlagen, das Porzellan zertrümmert, seidene Tapeten und Vorhänge zerfetzt, die gesamte Bibliothek zerfleddert, Gemälde zerschnitten, Kronleuchter aus dem Fenster geworfen, die vergoldeten Boiserien zerhackt, marmorne Kamine zermalmt, kurz: Die prachtvollen Gemächer glichen bald einer Mondlandschaft.

Die Einrichtung – zerstört oder noch halbwegs intakt – flog aus den Fenstern aufs Seine-Ufer und von dort teilweise weiter in den Fluß. Was nicht zerstört werden konnte und von Wert war, wurde geraubt: Gold, Silber, Schmuck und andere Pretiosen verschwinden in den Taschen der Plünderer. Und auch vor religiösen Objekten macht die Raserei keinen halt. Eine Christus-Statue aus Elfenbein, die Ludwig XIV der Madame de Vallière geschenkt hatte und die über das Kloster der Karmeliten ihren Weg in das erzbischöfliche Palais gefunden hatte, wird in zwei Teile zerschlagen. Eine silberne Marienstatue, ein Geschenk Karls X an Notre Dame, wird in ihre Einzelteile zerlegt. Geraubt wird auch alles, was sich an Bargeld finden läßt, eine Summe, die auf immerhin 300.00 Francs geschätzt wird. Sowohl der diözesane Fonds, als auch Stiftungsgelder und das private Vermögen des Erzbischofs verschwinden an diesem Tag. Die Ausnahme ist ein Beutel mit 2.400 Francs aus dem Fonds für erkrankte Priester, den jemand beim Hôtel-Dieu abgibt.

Der 29. Juli 1830 in Paris

Nach der totalen Verwüstung des ersten Stockwerks begibt sich die Meute in die zweite Etage und wiederholt dort das Zerstörungswerk. Den Sekretären, Dienern und diversen Angestellten, die hier ihre Zimmer haben, bleiben ebenfalls nur Trümmer, Fetzen und Splitter.

Und als es im Palast absolut nichts mehr zu zerstören gibt, richtet sich die Aufmerksamkeit bzw die Beutelust plötzlich auf die Kathedrale. Zwar gelingt es, die Sakristei zu schließen, nachdem dort „nur“ von zwei früh angekommenen Plünderern eine Monstranz zerlegt und ihrer Edelsteine beraubt wurde. Aber die Meute stürmt den Kapitelsaal und die Kleiderkammer. Die Portraitgemälde der Erzbischöfe werden zerschnitten, Kreuze, Lampen, Gefäße werden zerstört oder geraubt, die Paramente werden entweder zerfetzt oder entwendet, die Chortrachten ebenso. Der Rest der Kathedrale wird nur gerettet, weil die aus dem erzbischöflichen Palst geworfenen Marmorplatten die Fenster erzittern lassen und einen solchen Lärm verursachen, daß dem Pöbel mulmig wird und er die Kirche verläßt. Am Nachmittag sieht man am Ufer der Seine, außerhalb des verwüsteten Palastes inmitten der sich dort häufenden Trümmer betrunkene Strolche, die mit Mitren, Vespermänteln, Kaseln und Seidenschleppen umherstolzieren und so dem Tag einen Namen geben: Der Karneval von 1830.

Helau!

Während des gesamten Vormittags gab es seitens der Regierung nicht einen einzigen Versuch, das erzbischöfliche Palais vor der totalen Verwüstung zu retten oder die Kathedrale zu schützen.

Erzbischof Quelen, der zum Zeitpunkt des Überfalls auf seinen Palais glücklicherweise nicht zu Hause war (während des ersten Sturmes hörte man unter anderen Rufen auch den Appell „Tod dem Erzbischof!“), rächte sich kurze Zeit später, indem er den Vinzentinerinnen des Notre-Dame-Distrikts (welcher als Heimat eines großen Teils der Plünderer galt) eine großzügige Summe zur Verteilung an die Armen schickte und anmerkte, daß, sollten unter den Empfängern Individuen sein, die sich am Zerstörungswerk in seinem Palais beteiligt hatten, auch diese nicht zu kurz kommen sollten.

Wie es mit dem Erzbischof und dem Palais weitergeht, erfährt der geneigte Leser im zweiten Teil dieses Beitrages.