Von der Provinz in die Hauptstadt

Wir verließen unseren frischgebackenen Abbé, nachdem dessen Vater vom Kardinal de Fleury, einem Jugendfreund, das schriftliche Versprechen bekommen hatte, seinen beiden Söhnen den Weg nach Paris und in eine anständige Ausbildung zu ebnen.

Wir sind nun Zaungäste des Abschieds an einem Sommertag im Jahre 1729. Die schluchzenden Damen der Familie (und des Haushalts – die weiblichen Angestellten weinten ihrem Wonneproppen sicherlich die eine oder andere Träne nach) mußten auf Anordnung des Familienoberhauptes an der Türschwelle verharren. Papa de Bernis begleitete François und Philippe zur Kutsche, welche die Buben zuerst nach Montélimar und von dort nach Lyon bringen sollte, von wo es schließlich in einer der dreimal wöchentlich abfahrenden Postkutschen nach Paris gehen sollte.

Die Abschiedsworte des Vaters hat der Vierzehnjährige nicht vergessen. Er gibt sie in seinen circa 30 Jahre später verfaßten Memoiren so wieder: „Mein Sohn, Du ziehst in eine Gegend, in der ich lange gelebt habe und in der ich Dir noch nicht vollkommen unnütz sein werde. Ich traf dort viele Gleichgestellte und eine große Anzahl von Höhergestellten. Sieh zu, daß erstere dich lieben, und mache dich niemals mit letzteren vertraut: Lerne, sie zu respektieren, aber sei niemals selbstzufrieden. Lerne, zu gehorchen, aber vergiß nicht, daß du nicht dazu auserkoren bist, irgendjemandes Diener zu sein. Wenn die Gottesfurcht dich nicht vom Umgang mit Frauen fernhält, so fürchte wenigstens um deine Gesundheit“.

An diesen Ratschlägen knabbernd nahm François den Abschiedskuß des äußerlich vollkommen ungerührten Vaters entgegen und machte sich mit seinem Bruder auf die Reise. Daß diese Tour die eine oder andere Unannehmlichkeit mit sich brachte, das ist nicht in den Memoiren selbst überliefert, sondern wird nur in jenen Biographien erwähnt, welche schamlos die Tatsache ausschlachten, daß die Geschichtsschreibung unseren Abbé traditionell für lange Zeit als ein Wesen zu betrachten schien, welches man getrost auf der ganz dünnen Grenze zwischen historischer Genauigkeit und ausschweifender Phantasie balancieren lassen kann (Danke, Casanova!). Hier müßte also auch ich jetzt mit der einen oder anderen historisch nicht gesicherten Räuberpistole aufwarten, aber ich spare mir meine Ausschmückungen für die Augenblicke auf, die mir geeigneter erscheinen, oder, um der Wahrheit die Ehre zu geben, die für meinen Schweiß und mein Herzklopfen auch einen lohnenden Ertrag abwerfen.

Ergo, knurrende Mitreisende hin, abzockende Herbergsväter her: François und Philippe verließen die einzige Welt, die sie bis dahin kannten, und machten sich auf die Reise. Einige Tage später erreichten sie Paris, verbrachten einen Nacht in einer Herberge in der Nähe des Place des Victoires und nahmen am nächsten Morgen tränenreich Abschied. Philippe zog weiter nach Versailles, François machte sich auf den Weg über die Pont Neuf zum Jesuitenkolleg. Es ist unmöglich, sich an dieser Stelle nicht unseren kleinen Protagonisten vor das innere Auge zu holen, um ihn auf seinen ersten Schritten durch die Hauptstadt zu begleiten. Sein hungriger Verstand, seine hungrigen Sinne, seine hungrige Neugierde: Selten zuvor werden sie sich so vollgefuttert haben, wie in den ersten Minuten in Paris. Das Vorbeirauschen der Menschen, das Geschrei der Händler, der Duft der Marktstände, das Klappern der Hufen, das Rasseln der beschlagenen Räder, die Auslagen der Drucker und Graveure, die Werkstätten der Handwerker und Künstler: Die gesamte Geschäftigkeit einer riesigen Stadt drosch auf unseren guten Abbé ein, und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie er sich förmlich losreißen und aufrappeln mußte, um endlich den Weg ins Kolleg zu finden.

Dort wartete auch schon der Dämpfer, der François aus den Träumen zurückholte in den Arbeitsmodus: Der Präfekt der Schule versagte dem Abbé den Eintritt in die Tertia und die Rhetorikklasse, weil er der Meinung war, daß eine in der Provinz genossene Ausbildung den Pariser Ansprüchen nicht standhalten könne und er darüberhinaus noch nie einen aus dem Languedoc dahergelaufener Neu-Abbé getroffen hatte, der am Kolleg Louis-le-Grand nicht erst einmal seine Studien auffrischen, wenn nicht gar wiederholen mußte, um mithalten zu können (bischöfliche Empfehlungsbriefe hin, „Ich war aber überall Klassenbester!“ her). Als sich dann noch der ein oder andere Mitschüler über seinen languedokischen Akzent lustig machte, verschwand François für zwei Monate im Studier-Limbo, um erstens akzentfrei sprechend wieder aufzutauchen und zweitens den Präfekten so nachhaltig zu überzeugen, daß er sofort in die gewünschte Klasse aufgenommen wurde. Diese und andere Erfolge überblickend urteilt der Kardinal in seinen Memoiren: „Wenn die Selbstachtung die Wurzel aller Laster sein sollte, so ist sie dennoch auch der Stachel, der die Tugenden hervorbringt“.

Er war zwar nicht sofort der Klassenbeste, aber – wir kennen seine Methode ja bereits – nach weiteren drei Monaten des strengen Studierens war auch dieses Ziel erreicht: „Ich konnte wieder auf meinen Lorbeeren einschlafen, um mich hin und wieder zu erheben, wenn ein Kamerad meinen Platz einzunehmen drohte“.

François spricht mit sehr viel Achtung, ja Bewunderung von den drei Lehrern, die ihn am meisten prägten. Der Abbé Porée kannte die Klassiker und auch die modernere Literatur. Er liebte das Theater und erwies sich selbst als großartiger Schauspieler. Er war streng zu sich selbst, nachgiebig gegenüber seinen Studenten und wurde allgemein von den Schülern geliebt und respektiert. Der Abbé La Sante besaß viel Phantasie, eine blumige Sprache und einen humorvollen, manchmal gar albernen Geist. Er wurde ebenfalls geliebt, aber nicht gefürchtet. In seiner Stube trafen sich die Studenten oft nach einem Urlaub bei der Familie und genossen die mitgebrachten regionalen Spezialitäten, wobei das fröhliche Beisammensein an guten Abenden bis in die Morgenstunden dauern konnte. Der Abbé Tournemine schließlich besaß oberflächliches aber dafür weit gestreutes Wissen und versuchte, von seiner mit allen möglichen und unmöglichen Wissenschaftlern, Poeten und Philosophen vollgestopften Stube aus, die ganze Welt zu konvertieren.

François‘ guter Ruf führte bald dazu, daß ihm die Aufsicht über jene Studenten übertragen wurde, die an freien Tagen nicht das Kolleg verlassen durften oder konnten. Er erfüllte, wie er selbst schreibt, diese Aufgabe, ohne den Respekt seiner Lehrer oder die Freundschaft seiner Mitschüler zu verlieren.

An dieser Stelle sei eine weitere Eigenschaft des jungen Abbé erwähnt: Wenn er sich in einer neuen Situation wiederfand, begann er sofort, nach Freunden zu suchen und auch Freunde zu finden. Er erzwang die Freundschaften nicht, noch weniger erkaufte oder erschlich er sie. Er verließ sich lediglich auf seinen Charakter, seine fröhliche Natur, sein früh entwickltes Ehrgefühl und seine tadellosen Manieren (und vielleicht auch ein wenig auf sein entwaffnendes, durch keinen Laune des Schicksals zu entmachtendes Lächeln und sein bei den meisten Menschen Zustimmung wenn nicht gar Zuneigung hervorrufendes Äußeres). Es mag in den jungen Jahren eine Art Instinkt gewesen sein, der sich später, als er zu einer klaren Maxime geworden war, als durchaus hilfreich erwies.

Damit ich die geneigte Leserschaft nicht überhitze, beende ich an dieser Stelle das Kapitel. Beim nächsten Mal begleiten wir den jungen Abbé in das Seminar Saint-Sulpice und hinein in die erste große Krise, die er als Student zu überstehen hatte.


Teil I: Die ersten Schritte

Teil V: Die Wolken ziehen auf

5 Kommentare zu „Von der Provinz in die Hauptstadt

  1. Überhitzt bin ich zwar noch nicht, aber durch Ihre Beiträge inspiriert, meine eigene fixe Idee mal wieder schriftstellerisch wieder aufzunehmen. Das ist doch schon was.

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